Russische Seele
1991 – Die ersten tiefen Eindrücke
Eigentlich habe ich meinem bebilderten Beitrag für die Mitarbeiter-Zeitschrift „Sammelschiene“ (siehe Ziffer: 10 Fahrten – Jan. 1991 – Sammelschiene) alles geschrieben, was es zu sagen gibt.
Dennoch: Ich hatte drei prägende Erlebnisse während unserer ersten Fahrt nach Leningrad, im Januar 1991 die auch heute noch nachwirken:
1. Die Begegnung mit dem Bürgermeister von Leningrad
Wir wussten um die Bedeutung des 27. Januar für Leningrad. Um so mehr berührt es mich immer noch, was der Bürgermeister zu uns sagte: „Heute, in dieser schwierigen Lage, sehen wir, wo unsere Freunde sind.“
2. Unser Erlebnis auf dem Ehren-Friedhof
Als wir zu dem Friedhof kamen, war unsere erste Station ein Pavillon im Eingangsbereich, in Faksimiles aus dieser schwierigen Zeit. In der Ecke saß eine ältere Dame, der wie keine besondere Beachtung gezollt haben.
Wir haben an dem Ehrenmal auf dem Friedhof rote Nelken hinterlegt.
Und auf dem Rückweg sprach und diese ältere Dame an. Sie sagte uns, dass zwei ihrer Brüden hier lägen und fügt hinzu: „Die hat Hitler umgebracht“ Dann sagte sie weiter, dass ein weiterer ihrer Brüder und ihr Vater auch dort lagen. Und dazu sagte sie: „Die hat Stalin umgebracht.“
Dann sprach sie von der Zukunft. Sie bat uns – ohne Schuldzuweisung und ohne Verbitterung – mitzuhelfen, dass sie Völker und Menschen sich besser verstehen, damit die Zukunft friedliche werde.
3. Das Treffen mit Irina bei der Verabschiedung
Ich hatte in jedes Paket einen Brief in russischer Sprache legen lassen. Darin habe ich russischen Kindern angeboten, mit Kindern unserer Mitarbeiter ein Brieffreundschaft zu schließen.
Die feierliche Verabschiedung in Leningrad habe ich in der „Sammelschiene“ beschrieben. Ich möchte nur einen Punkt mit nachhaltiger Wirkung ergänzen:
Damals saßen in der letzten Reihe des Saals mehrere Frauen. Unter ihnen war auch Irina mit einem Stapel von Briefen, die sie mir überreichte. Auf Englisch sagte sie, das ist für Eure Kinder in Hamburg.
Ich fragte Irina, ob auch ein Brief von ihrem Kind dabei sei und sie antwortete: Von meinen beiden Söhnen. Die beiden Briefe nahm ich an mich und daraus ist eine wunderbare Freundschaft mit meinem Sohn entstanden – zu seinem 16ten Geburtstag, im Herbst 1993, bin ich mit meinem Sohn nach St. Petersburg, wie das ehemalige Leningrad wieder hieß, gefahren und Irina war unsere Gastgeberin. Die Freundschaft hielt mehr als zehn Jahre.
2014 – Galinas Mutter: Leningrad 1941/42
Bei unserer Fahrt nach Murmansk im Jahre 2012 lernte ich Galina kennen. Sie war Lehrerin für Deutsch in der Erwachsenbildung, Touristenführerin und sie hat uns die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt gezeigt.
Galina hat mich mehrfach in Deutschland besucht und ich war viele Jahre ihr Gast in St. Petersburg – oder wie die alten Frauen dort liebevoll sagen: in Piter. In Karelien hatte Galina ein Haus, in dem Ludmilla, ihre Mutter, wohnte bis sie nach schweren Verbrennungen in der “Banja“, nach Piter zog.
Ludmilla ist 1935 in Leningrad geboren und 2014 erzählter sie mir ihre Geschichte aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“:
In dem kalten Winter 1941/42 konnte sie mit Vera, ihrer Mutter, und ihren beiden Schwestern über den zugefrorenen Ladoga-See aus dem „Kessel von Leningrad“, in dem eine Millionen Menschen verhungert und erfroren sind, evakuiert werden.
Lena, ihre 4-jährge Schwester, wurde dann wegen Unterernährung und einer Infektion in einem Krankenhaus isoliert. Ihre Mutter und ihre Schwestern durften sie dort nicht besuchen. Sie hatte vergeblich versuchte, durch das geschlossene Fenster mit ihrer Mutter zu reden. Und Lena verstarb dort – sie ist verhungert.
Nach ihrem Tod fand man in ihrem Kopfkissen Brot und Karotten –für ihre Mutter und ihre Schwestern hatte Lena sie sich vom Munde abgespart.
Das war ein Moment, wo ich nicht stolz darauf war, ein Deutscher zu sein und ich habe geweint.
Da nahm mich Ludmilla, die alte Frau, zärtlich in den Arm und sagte zu mir: „Du warst das ja nicht, das war doch der Hitler“.
1945 – Sonja: Augenärztin für deutsche Kriegsgefangene
Inna, meine Freundin aus dem Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin, ist am 12. Juni 1969 in Luhansk geboren. 1979 zog sie mit Ihrer Familie nach Moskau und seit 2000 ist sie in Deutschland. Ihr Vater ist in Berlin beerdigt.
Inna hat mir die Geschichte ihrer Großmutter Sonja erzählt. Einige Aspekte haben mich tief berührt:
Sonja wurde 1904 in Kiew geboren. Seit Mitte der 1930er Jahre hatte sie als Augenärztin in einer Polyklinik in Kiew gearbeitet.
Am 22. Juni 1941 sah July in den frühen Morgenstunden Flugzeuge von West nach Ost über Kiew fliegen. Als die Wehrmacht kurz vor Kiew stand, ist es Sonja und ihrer Familie mit dem letzten Zug gelungen, nach Usbekistan zu fliehen, denn sie waren Juden. In Usbekistan hat Sonja weiter als Augenärztin gearbeitet.
1945 ist Sonja mit ihrer Familie in die Ukraine zurückgekehrt und hat in Luhansk als Augenärztin gearbeitet – für die einheimische Bevölkerung und insbesondere behandelte sie auch deutsche Kriegsgefangene.
Der deutsche Kriegsgefangene Friederich, dem sie das Augenlicht gerettet hat, bastelte daraufhin für Sonja eine Holzschachtel mit floralen Motiven als künstlerische Verzierung. Diese Schachtel wird als Erinnerung an Sonja als Erbstück in der Familie weitergegeben.